Ein verblüffendes Turmendspiel

"Turmendspiele sind immer Remis" sagte einmal ein Schachfreund scherzeshalber. Aber gilt das auch noch bei zwei verbundenen Mehrbauern?

Die folgenden Züge entstammen der Partie Carsten Meya gegen Markus Bollwerk anläßlich des Bezirksligakampfes zwischen PTSV Dortmund und Turm Selm am 5.11.2000.

Gespielt wurde die geschlossene Variante der Sizilianischen Eröffnung, nach dem 24. Zug von Schwarz (Dc6) ergab sich diese Stellung:

So fing alles an

Als Weißer stand ich hier vor der Wahl, wie ich den Angriff fortsetzen sollte. Die Türme verdoppeln oder vielleicht einen Turm in die g-Linie überführen (und wenn ja welchen)? Angesichts der fortgeschrittenen Zeit entschied ich mich, in ein günstiges Endspiel abzuwickeln.

Die nächsten Züge waren erzwungen:

25.f6Txf6
26.Txf6Dxf6
27.Dxf6gxf6
28.Txc5...

Das zugrundeliegende Endspiel

Der weiße Läufer war befreit (vorher hing immer c4 in der Luft), die schwarzen Bauern sind zersplittert und verdoppelt.

Dem Weißen droht zwar ein Grundreihenmatt und der Bauer auf b2 ist schwach, dem gegenüber sind aber die schwarzen Bauern auf f7, d4, a6 und nach dessen Verlust auch b5 nur schlecht zu verteidigen; dieses Endspiel erschien mir daher vorteilhaft.

Der Nachziehende kann jetzt direkt den b-Bauern gewinnen, und zwar entweder mit der Springergabel auf a3 (das finde ich persönlich stärker) oder so wie in der Partie durch die Zugfolge:

28....Te8
29.Kg1Te1+
30.Kf2Ta1
31.Lb3Tb1
32.Tc7Txb2

Vor dem weißen Aussetzer

In dieser Stellung gewinnt nun fast jeder Zug für Weiß. Mein Schachprogramm empfiehlt Kf3 und sieht Weiß mit mehr als einer Bauerneinheit im Vorteil. Auch das profane Lxf7+ genügt, um den weißen Vorteil zu sichern. Es gibt aber eine hervoragende Möglichkeit, die weiße Stellung wegzuwerfen, und ich habe sie gefunden!

Nein, nicht Txf7 wie Sie jetzt denken mögen, das scheitert zwar an Txb3, war jedoch zu offensichtlich. Aber betrachten wir mal Tb7. Wo soll der Springer hin? Auf a4 und d5 schlägt ihn der Läufer, d7 bewacht der Turm, c4 der Bauer und wenn der Springer auf die 8.Reihe zieht geht er nach Tc8 verloren. Soweit meine zu oberflächliche Analyse während der Partie.

Mein Gegner dachte wohl ähnlich, denn er überlegte recht lange. Dann jedoch zog er mit spürbarer Erregung den Springer lautstark nach c4. Da fiel es auch mir auf: so richtig ist das Feld ja gar nicht gedeckt! Es hatte sich mal wieder bewiesen, daß im Schach oft "etwas rechnen" schlechter als gar nicht rechnen ist; schließlich waren die naheliegenden Züge (z.B. Lxf7+) deutlich stärker als die "gute Idee" Tb7.


Nun war guter Rat teuer. Den greifbaren Sieg hatte ich vergeben, soviel war mir klar. Aber war die Stellung wenigstens noch Remis zu halten? Es würde schwierig werden. In Erinnerung an gute Erfahrungen mit Turmendspielen entschloß ich mich, die Leichtfiguren abzutauschen und der Dinge zu harren, die da kommen mochten.

33.Tb7Sc4
34.dxc4bxc4
35.Kf3d3
36.Td7dxc2
37.Lxc2Txc2
38.Tc7Tc3+
39.Kf4...
Ein Turmendspiel ist entstanden

Da ist es, unser Turmendspiel mit den zwei schwarzen Mehrbauern. Aber keine Angst, ein paar Züge weiter sieht es noch viel "gewonnener" aus.

Schwarz steht hier vor der Entscheidung, welcher Bauer zur Dame gehen soll. Markus entschied sich für den in der a-Linie. Allerdings ist das eine zweischneidige Sache: Einerseits ist der Bauer ziemlich entfernt, andererseits verliert Schwarz auch den vorgerückten c-Bauern und jeder Bauerntausch erleichtert dem Weißen die Verteidigung.

39....Txa3
40.Txc4Ta2
41.Kf3Ta3+
42.Kf4Kg7
43.g4Ta5
44.Tc6Ta4+
45.Kg3a5
46.Ta6Ta1
47.Kh4a4
48.Kh5a3
49.h4h6
50.Ta5a2
51.Ta8...

Der schwarze Sieg scheint eine Frage der Zeit

Habe ich zu viel versprochen? Wenn das nicht gewonnen aussieht!

Der weiße König musste auf jeden Fall vor die Bauern, sonst gibt der Turm Schach und der Bauer zieht ein. Der weiße Turm gehört in die a-Linie hinter den Freibauern. Ansonsten hatte ich die letzten Züge eher "aus dem Bauch heraus" gespielt, an ein sicheres Remis hatte ich nicht im Traum geglaubt, nur an eine kleine Chance.

Doch allmählich dämmerte mir, daß der schwarze Sieg vielleicht doch nicht so einfach werden würde. Denn wie geht es hier weiter? Der Vorstoß f5 bringt wenig für den geopferten Bauern; wenn der schwarze König danach ins Zentrum wandert deckt Ta5 den weißen Bauern und der schwarze auf h6 fällt.
Aber vielleicht kann man ja den a-Bauern gewinnbringend abgeben ....

51....Tb1
52.Txa2Tb5+
53.g5fxg5
54.hxg5...

Die letzte Chance für Schwarz

Schwarz musste hier unbedingt Txg5+ versuchen. Die Stellung danach ist unklar, der verlockende Partiezug hxg5 führt jedoch zwingend zum Remis!

54....hxg5
55.Ta6!...
Die verblüffende Remisstellung

Bei einem flüchtigen Blick ist kaum zu glauben, daß diese Stellung mit den zwei verbundenen Bauern für Schwarz nicht in kürzester Zeit gewonnen sein soll.

Dem ist jedoch nicht so. Zieht der schwarze König nach f8 so begibt sich der weiße Turm auf die siebte Reihe, der König kommt nicht weiter. Wohl oder übel musste Markus irgendwann f6 ziehen, die einzige Möglichkeit überhaupt etwas entscheidendes zu ändern.

55....Tf5
56.Tb6Te5
57.Ta6Tb5
58.Tc6Kf8
59.Tc7Ke8
60.Ta7Tc5
61.Tb7Ta5
62.Tc7Kf8
63.Tb7Te5
64.Ta7Td5
65.Tb7Kg7
66.Tb6Kf8
67.Tb7Ke8
68.Ta7f6
Nach langer Planlosigkeit ...

Aber war damit der Sieg näher gerückt? Nicht wirklich ...

69.Kg6Td6
70.Tb7Kd8
71.Ta7Tc6
72.Tb7Ta6
73.Tf7Ke8
74.Tb7Td6
75.Ta7Td7

Es wird abgewickelt

Der Nachziehende wickelt nach vergeblichen Gewinnversuchen ins Remis ab (vielleicht hoffte er insgeheim auf Txd7?? ?).

76.Ta6Ke7
Mit Tf7 "den Turm hinter die Bauern zu stellen" verliert nach Ta8+ sogar noch für Schwarz, g4 stellt nur Zugumstellung dar.
77.Txf6g4
78.Tf1g3
79.Tg1Td8
Über diesen dreisten Zug musste ich schmunzeln. Das war aber auch der letzte Trick: Txg3 würde jetzt natürlich nach Tg8+ noch verlieren. Stattdessen geschah jedoch
80.Kf5Tg8
und die Kontrahenten einigten sich auf Remis.

Die Endstellung

Als ich nach Partieende zu meinen blitzenden Vereinskollegen kam war die Begrüßung:"Und, Du hast doch verloren, oder?"
Und auch in der späteren Partieanalyse wollte noch so mancher die Partie für Schwarz gewinnen.

Anscheinend ein verblüffendes Turmendspiel ....

Carsten Meya